Jede „Szene“ hat in der Donaumetropole ihr Stammcafé: die Beamten der Ministerien etwa das Café Ministerium am Georg-Coch-Platz, die Kunst-Studenten das Prückel am Stubenring, die Politiker das Landtmann am Dr.-Karl-Lueger-Ring. Im Kaffeehaus wird philosophiert, meditiert, tachiniert, Zeitung gelesen, getratscht, geknutscht, Billard oder Schach gespielt, mit Fremden über Gott und die Welt diskutiert und vieles mehr. Ja, und natürlich auch Kaffee und Kuchen genossen.
Wien wäre eben „eine zum Mittelmeer gewendete, ursprünglich römische Stadt“, erklärte der große Romancier Heimito von Doderer 1960. Deshalb fände man in den Wiener Cafés auch „jene meditative Stille und das zweckfreie Vergehen lassen der Zeit, das jeder kennt, der ein orientalisches, ein türkisches Café besucht hat.“
Tradition und Trubel
In den beliebtesten Kaffeehäusern der Stadt merkt man davon allerdings weniger. Zum Beispiel im Café Central in der Herrengasse und im Griensteidl am Michaelerplatz. Das ehemalige Literatencafé Griensteidl, seit 1990 in einem neuen Haus am alten Platz wiedereröffnet, liegt exakt an der touristischen Pilgermeile Hofburg-Kohlmarkt-Graben-Stephansplatz. Es ist für Wien-Besucher der am meisten geeignete Ort, um müde Füße auszustrecken und sich mit heißem Kaffee wieder auf Touren zu bringen.
1897 fiel das Griensteidl wie auch die Basteien und zahlreiche Gebäude am Graben und am Neuen Markt der Spitzhacke zum Opfer. Halb nostalgisch, halb ironisch klagte Karl Kraus in „Die demolierte Literatur“: „Unsere Literatur sieht einer Periode der Obdachlosigkeit entgegen, der Faden der dichterischen Produktion wird grausam abgeschnitten.“ Zum Glück existierten andere Cafés weiter. Die Stammgäste des Griensteidl übersiedelten ins Café Central.
Gutes Benehmen am Stammtisch
Auch heute noch sitzt der Dichter Peter Altenberg als Pappmaschee-Figur im Café Central in der Herrengasse. Dort hatte der schrullige Lebenskünstler im ersten Drittel unseres Jahrhunderts seine Postadresse und seinen Stammtisch, an dem sich u. a. der bedeutende Architekt der Moderne, Adolf Loos, seine Frau Lina, der Schauspieler und Essayist Egon Friedell sowie der Schriftsteller Alfred Polgar einfanden.
Altenberg, dessen kurze Prosatexte und Skizzen Egon Friedell einmal „tausend fächerige Magazine voll kleiner und kleinster Beobachtungen“ nannte, stellte für seinen Stammtisch sogar nicht ganz ernst gemeinte Verhaltensregeln auf. So zum Beispiel auch diese: „Das Nägelschneiden bei Tische ist verboten, selbst mit einer eigenen mitgebrachten Schere alten Systems; besonders aber mit der neuartigen Zwickmaschine, da die scharf abgezwickten Nägel dann leicht in die Biergläser springen können, und das Herausfischen mit Schwierigkeiten verbunden ist.“
Heute ist die Stimmung im Café Central eine geschäftliche, gutbürgerlich, gepflegt: Unter der Woche dominieren die Geschäftsleute der umliegenden Banken das Bild. Am Wochenende umringen Wien-Besucher, Hofratswitwen und pensionierte Kommerzialräte den Pappdichter und lauschen andächtig dem Klavierspiel.
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